Russisches Bier – Spezialitäten à la Tolstoi
Im größten Land der Erde weht ein frischer Wind durch die Braustätten und Sudhäuser. Trotz anhaltender Wirtschaftsprobleme entstehen in Russland derzeit viele neue Kreativ-Brauereien mit beachtlicher heimischer Sortenvielfalt. Besonders in hippen europäischen Stadtvierteln kommt russisches Bier gut an.
Mit ihrem Welthit „Winds of Change“ könnten die Scorpions inzwischen auch in der russischen Bierszene reüssieren. Das Land der Bären und Wölfe erlebt gerade einen bisher nie dagewesenen Trend zu Spezialitätenbieren. Vor allem in den Metropolen fegt ein neuer Wind durch die Gassen: Egal ob in Moskau, St. Petersburg oder am Ural, fast monatlich eröffnen neue Boulevard-Brauereien, Craft Beer Kneipen, Bars und Shops ihre Pforten. Und in den Großstädten des Landes feiern die Einwohner mittlerweile Bierfestivals mit Besuchern aus der ganzen Welt, die extra für den russischen Bier-Genuss anreisen.
Was der plötzliche russische Bier-Trend mit dem Fall der Sowjetunion zu tun hat
Nach dem Fall der Sowjetunion überschwemmten internationale Bier-Giganten den Markt mit preiswerten Standardbieren. Fast täglich liefen zu dieser Zeit tausende Finnen und Schweden zu preiswerten Trinkgelagen nach St. Petersburg ein. Selbst renommierte russische Brauereien, wie etwa die St. Petersburger Baltika mit einem Sortiment von über 20 Bierstilen, wurden von Industrie-Giganten wie Carlsberg aufgekauft. Nach der Annexion der Halbinsel Krim und dem darauffolgenden Wirtschaftsboykott des Westens, fiel der Rubelkurs und ausländische Biere wurden für Normalverbraucher fast unbezahlbar. Doch jetzt präsentieren sich immer mehr Jungbrauer mit regionalen Bierschmieden und speziellen Suden. Dank dem noch immer relativ günstigen Rubel erleben die Russen gerade eine echte Bier-Revolution. Marktforscher bekräftigen, dass die Nachfrage nach heimischem Bier – vor allem bei jüngeren Konsumenten – inzwischen größer sei als das Angebot.
Von Beeren über Birken-Chips bis Brandy: Das bietet die hippeste Bier-Bar Zagovor in Moskau
Eine der ersten modernen Spezialitäten-Brauereien in Moskau heißt „Zagovor“. Nahe dem Kreml und des Roten Platzes hat sie sich in kürzester Zeit zur wahrscheinlich hippesten Bier-Location im ganzen Land entwickelt. Mit angeschlossener Kneipe, 30 Zapfhähnen und einem gutbestückten Shop ziehen die individuellen Sude der Russen inzwischen auch durstige Bierfans aus fernen Ländern an. Vor knapp drei Jahren wurde „Zagovor“, was übersetzt so viel bedeutet wie „Verschwörung“, von der Online-Bewertungsplattform „RateBeer“ zur besten russischen Brauerei ausgezeichnet. Ihre vielfältigen Biere aromatisiert das Moskauer Brau-Team gern auch mit heimischen Zutaten wie frischen Beeren, Birken-Chips und einem bereits zur Zarenzeit berühmten Brandy namens „Ararat“. Vadim, einer der Gründer der Braustätte, der sich wie seine Mitstreiter nur mit Vornamen ansprechen lässt, ist überzeugt: „Der Markt für Spezialitätenbiere ist in Russland in kürzester Zeit geradezu explodiert und wir waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Exportschlager russisches Bier auch in Berliner Szeneviertel angekommen
Aber nicht nur im eigenen Land genießen die Moskauer ihren Erfolg. Seit vergangenem Jahr gehen ihre Biere inzwischen auch über die Theke einer Bierbar im Berliner Szeneviertel Friedrichshain. Im „Protokoll“ gibt es 24 Zapfhähne, in denen kunstvoll Hölzer, Zapfen und Zweige aus den Wäldern Russlands eingebaut sind. Nicht unbekannt in der deutschen Hauptstadt sind auch die russischen Trendsetter Nikita Filippov, Dmitry Buldakov und Artem Kolchukov von „AF Brew“ – AF steht für Anti-Factory. Sie brauten vor drei Jahren ein gemeinsames India Pale Ale mit der Berliner Bierfabrik. „Das war unser aller erster Kollaborationssud überhaupt“, erzählt Filippov stolz. Prinzipiell setzen die drei Macher aus St. Petersburg aber auf regionale Rohstoffe. Ganz nach heimischen Geschmack würzten sie einen Sud mit speziell gerösteten schwarzen Salz.
Zur Avantgarde in Russland zählen außerdem: Die „Vasileostrovskaya“-Brauerei auf der Wassiljewski-Insel im Herzen von Sankt Petersburg sowie die „Victory Art Brew“, nordöstlich von Moskau gelegen – neben weiteren Bierschmieden in abgelegenen Regionen. Aber selbst im Herzen des Urals, in Jekaterinburg, entstand ein funkelnagelneues Brauzentrum, das von der „Jaws Brewery“ betrieben wird und als Vorläufer der Bierbewegung am Rande Sibiriens gilt. Die Jaws-Brauer halten sich strikt an eine Weisheit des berühmten Schriftstellers und Philosophen Lew Tolstoi, der sich schon vor 150 Jahren zu den heimischen russischen Bieren bekannte: „Man kann ohne Liebe Holz hacken, Eisen schmieden und Ziegel formen, aber Bier brauen ohne Liebe kann man nicht.“