Von Stechapfel und Ochsenblut
In diesem Jahr feiert das deutsche Reinheitsgebot sein 500. Jubiläum. Doch abstruse Legenden ranken sich um das angeblich älteste Lebensmittelgesetz der Welt – ein Ausflug durch die Biergeschichte.
Es war wohl eine schreckliche Zeit, damals um das Jahre 1516: Bauernaufstände, Reformationsfehden, Aufruhr, Hunger und Krieg. Ernten misslangen, Weizen und Roggen für die Herstellung von Brot waren rar. Da jeder damals so viel Bier braute wie er wollte, blieb mancherorts der Magen leer. In Zeiten höchster Not griff der bayerische Herzog Wilhelm IV. rigoros durch und verabschiedete ein bis heute gültiges Gesetz, das beim Bierbrauen nur die Verwendung von Gerste, Hopfen und Wasser erlaubte.
Des Herrschers gestrenger Erlass sollte wohl prinzipiell nur verhindern, dass die ganze Weizenernte im Braubottich landet. Denn schließlich mussten ja auch die Männer in den Streitmächten ernährt werden. Aber es ging auch um Geld: Norddeutsche Brauer produzierten qualitativ weitaus hochwertigere Gerstensäfte, die sogar in Länder rund um Nord- und Ostsee exportiert wurden. In anderen Landesteilen galt Bier noch im 16. Jahrhundert als ein wüstes Gebräu. Produzenten schreckten selbst vor gefährlichen Experimenten nicht zurück. Zur geschmacklichen Verfeinerungen mischten sie Kieferwurzeln, Kümmel, Schafgarbe, Schlehe oder Wacholder ins Bier. Bei Kräutern und Gewürzen blieb es aber nicht. Um die Rauschwirkung zu verstärken rührten sie auch Fliegenpilze, Stechäpfel, Maiglöckchen oder Bilsenkraut in den Sud. Und zur Stärkung der Manneskraft kam noch Ochsenblut, Hammelhoden und Rindergalle hinzu.
Solche Mixturen erzeugten nicht nur Halluzinationen bei vielen Konsumenten. Ungenießbare Rohstoffe hatten auch Brechreiz, Schwindelgefühle und Bewusstlosigkeit zur Folge. Die Menschen lagen tagelang im Delirium und in besonders krassen Fällen führte der Biergenuss zu Siechtum und vorzeitigem Tod. Da war es nur begrüßenswert, das der genussfreudige Landesvater seinerzeit mit einer Reinheitsverordnung konterte und der unkontrollierten Bierpanscherei in Bayern ein Riegel vorschob.
Bedeutung erlangte das Reinheitsgebot jedoch erst Jahrhunderte später durch die Embargopolitik von Otto von Bismarck. Der Reichskanzler benutzte den Gesetzestext als Mittel des Protektionismus für einen Handelsboykott gegen die damals besonders beliebten Biere aus England. Schließlich machte Bayern seinen Beitritt zum Reich von der Übernahme des Reinheitsgebotes abhängig. Ab 1906 galt das Reinheitsgebot in abgewandelter Form im gesamten Reichsgebiet.
Was für traditionsbewusste Brauer als ultimatives Qualitätsrichtmaß gilt, ist für kreative Jungbrauer heute häufig ein Bremsklotz bei Aromavielfalt und Experimentierfreude. Dennoch garantiert die Verordnung von 1516 in einer Zeit, in der Lebensmittel oft negative Schlagzeilen machen, immerhin einen wirksamen Verbraucherschutz.
Wie jedoch bei allen Legenden liegen auch beim Reinheitsgebot die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit eng beieinander. Verbürgt ist jedenfalls, dass die bayerische Landesordnung von 1516 als Brauvorschrift nur von kurzer Lebensdauer war. Ein herzoglicher Erlass erlaubte bereits wenige Jahre später, dass Koriander und Lorbeer als weitere Zutaten dem bayerischen Bier beigefügt werden durften. Kurz darauf war auch die Verwendung von Salz, Wacholder und Kümmel wieder legitim. Herzog Wilhelm, dem der Ruf eines legendären Trinkers vorauseilte, verweigerte sich strikt dem eigenen Biergesetz. Am bayerischen Hofe wurde angeblich weiterhin kreuz und quer gebechert – ins Glas kam alles was dem Souverän so schmeckte.